Monteverdi: Im Widerstreit zur Tradition

Monteverdi: Im Widerstreit zur Tradition
Monteverdi: Im Widerstreit zur Tradition
 
Die Zeit um 1600 war von großer künstlerischer Mannigfaltigkeit, ja geradezu Gegensätzlichkeit geprägt, die möglicherweise als Resultat der allgemeinen politischen Verunsicherung in Italien zu bewerten ist. Claudio Monteverdi lebte in diesen Umbruchszeiten. Doch anders als in Florenz tendierte er nicht zu einem rigorosen Bruch mit der Vergangenheit, sondern versuchte, aus den traditionellen Kompositionstechniken allmählich etwas Neues zu entwickeln. So stand seine erste Madrigalsammlung aus dem Jahre 1587 noch gänzlich in der Tradition, während drei Jahre später sein zweites Buch mit Madrigalen bereits eine sehr viel engere Beziehung zwischen Text und Musik erkennen lässt. In den folgenden Madrigalsammlungen erhielt der Text immer größeres Gewicht, nicht zuletzt auch durch gewagte Dissonanzbildungen, die nach den gängigen Kontrapunktlehren falsch, hinsichtlich der Text- und Affektausdeutung jedoch durchaus sinnvoll waren. Es mag bezeichnend sein, dass Monteverdi seine Versuche im »neuen« Stil nicht, wie der Florentiner Kreis, innerhalb der noch neuen Gattung Oper, sondern in der alten Gattung Madrigal unternahm. Genau an diesem Punkt setzte bald die Kritik seitens der Traditionalisten ein, durch die sich Monteverdi veranlasst sah, seine Position zu Text und Musik zu präzisieren. Und dies, obwohl ihm als praktischem Musiker wohl weniger an der theoretischen Durchdringung gelegen war als vielmehr an der konkreten Anwendung der in Florenz aufgestellten Theorien, wie die antike Musik wiederzubeleben sei.
 
Die Kritik wurde eröffnet vom Bologneser Geistlichen Giovanni Maria Artusi, der in seiner 1600 erschienenen Schrift »Über die Unvollkommenheiten der modernen Musik« Monteverdi des falschen Gebrauchs der Dissonanzen bezichtigte, wenngleich ohne Namensnennung. Zunächst unbeeindruckt von diesem offenkundig gegen ihn gerichteten Affront, gab Monteverdi 1603 sein viertes Madrigalbuch heraus, in dem er kompositionstechnisch nicht von seinem Standpunkt abwich. Dies forderte die erneute Kritik von Artusi heraus, wiederum ohne Namensnennung. Offenbar schien es Monteverdi nun doch für nötig zu halten, gegen Artusi Position zu beziehen. Im Vorwort zu seinem fünften Buch mit fünfstimmigen Madrigalen von 1605 setzte er sich gegen die Vorwürfe zur Wehr und verwies darauf, dass er als Komponist ganz bewusst gegen die traditionellen Kontrapunktregeln verstoßen habe. Für eine ausführliche Begründung seiner Kompositionstechnik jedoch fehle ihm bislang die Zeit. Der Leser des Vorwortes wurde darauf vertröstet, dass er dies in einer Schrift mit dem Titel »Seconda Pratica overo Perfettione della moderna musica« (= Eine zweite Art des Komponierens oder die Vollkommenheit der modernen Musik) nachholen werde - einem Titel also, der direkt auf die Schrift Artusis Bezug nimmt. Dieses Versprechen jedoch wurde nicht eingelöst. Unter dem Pseudonym Antonio Braccino da Todi startete Artusi daraufhin einen weiteren Angriff, auf den nun nicht mehr Monteverdi selbst, sondern 1607 sein Bruder Giulio Cesare in der Vorrede zu Claudios »Scherzi musicali« reagierte. Man wird jedoch voraussetzen können, dass Giulio Cesares Äußerungen zur »Seconda pratica« die Meinung seines Bruders widerspiegeln. Zu dessen Rechtfertigung zog er zunächst eine stattliche Liste von Musikern heran, die nicht anders als sein Bruder gehandelt hätten. Dass beispielsweise der hier zitierte Cypriano de Rore bereits über vierzig Jahre tot war, zeigt, dass sich Monteverdi durchaus der Tradition verpflichtet fühlte, und zwar den Komponisten, die bereits früher affektive Musik geschrieben hatten. Neben zahlreichen anderen, bereits verstorbenen Musikern wurden allerdings auch die Florentiner Neuerer Iacopo Peri, Giulio Caccini sowie Emilio de' Cavalieri als Gewährsleute für seine Musikauffassung ins Feld geführt: Der Text solle Herrscher über den Tonsatz sein. Dabei spielte es für Monteverdi offenbar keine Rolle, ob es sich um ein- oder mehrstimmige Gattungen, um monodische oder polyphone handelte. Artusi hingegen ging gar nicht von der Vokalmusik aus. Selbst das von ihm kritisierte Beispiel aus Monteverdis Madrigal »Cruda Amarilli« gab er ohne den Text wieder. Dadurch handelte es sich scheinbar um einen strengen kontrapunktischen Satz, in dem die Dissonanzbehandlung Monteverdis in der Tat als Fehler zu bewerten wäre. Derartige Freiheiten waren nach Monteverdi bei der Textausdeutung aber legitim; für ihn gab es schließlich nichts Vornehmeres als die musikalische Darstellung der menschlichen Leidenschaften, wie sie aus dem Text hervorgehen.
 
Monteverdis Forderung nach einem naturgemäßen Textvortrag veränderte nicht nur das Madrigal, sondern auch die Oper. Hier deckte sich seine Einstellung zwar weitgehend mit den kurz zuvor in Florenz erarbeiteten Theorien zur antiken Musik. Dass dennoch das Ergebnis seiner ersten Oper, der »Favola d'Orfeo«, die im Frühjahr 1607 in Mantua zur Aufführung kam, gegenüber den Werken seiner Vorgänger Peri und Caccini ganz anders ausfiel, lag wohl auch daran, dass er in erster Linie Praktiker war. Peris und Caccinis Opern hatten das Ziel, eine Theorie in Musik umzusetzen, Monteverdi hingegen leitete seine Theorie von der Musik ab. Nicht nur das Libretto Alessandro Striggios, das zwar mit Peris und Caccinis »Euridice« zahlreiche Ähnlichkeiten aufweist, zugleich aber auch sehr viel kontrastiver angelegt ist, führte zu einer neuen musikalischen Sicht. Auch Monteverdis Behandlung des Rezitativs mit all seinen Schattierungen — bestechend in ihrer Dramatik wird gegen Ende des zweiten Aktes die Botenerzählung vom Tod Euridices musikalisch dargestellt, eher lyrisch sind die Gespräche der Hirten gehalten —, und die Verwendung tänzerisch gehaltener Chöre und polyphoner Madrigale waren etwas Neues.
 
Die Instrumentalstücke orientieren sich ebenfalls am Textinhalt. Das Ritornell des Prologs erfährt so eine »leitmotivische« Verwendung. Anders als die Florentiner setzte Monteverdi zudem ein recht großes, farbiges Orchester ein, wie es in den Intermedien, den Zwischenaktstücken des 16. Jahrhunderts gerne verwendet wurde. So konnte er durch unterschiedliche Instrumentengruppierungen rasch auf textliche Veränderungen des Rezitativs reagieren. Ein derartiges dramatisches Reaktionsvermögen zeichnet auch die späteren Opern Monteverdis aus. Besondere Aufmerksamkeit wurde der 1608 aufgeführten Oper »Arianna« zuteil, deren Partitur jedoch verschollen ist. Lediglich ein Teilstück daraus, das berühmte »Lamento d'Arianna«, ist uns im Druck überliefert und zeigt noch stärker als der »Orfeo«, wie ausdrucksstark und bewegend Monteverdi tragische Affekte darstellen konnte. Ein Zeitzeuge berichtet anlässlich der Aufführung: »... es war die Geschichte von Ariadne und Theseus, und sie brachte in ihrem Lamento in musica, das von Violen und Violinen begleitet wurde, mit ihrem Unglück viele zum Weinen.« Dieses Lamento wurde zum Vorbild für zahlreiche Komponisten.
 
Die Opern, die Monteverdi zwischen 1608 und 1640 geschrieben hat, sind ebenfalls verschollen. Mit »Il Ritorno d'Ulisse in Patria« und der zwei Jahre später (1642) entstandenen Oper »L'Incoronazione di Poppea« liegen Zeugnisse von einem sich in der Zwischenzeit gewandelten Stil vor. Trotz aller Veränderungen, die zum Teil daraus resultieren, dass die Oper inzwischen kommerzialisiert war und nicht mehr primär für höfisches Publikum konzipiert wurde, zeigt sich in ihnen eine Konstante für das Werk Monteverdis: der enge Textbezug.
 
Das individuelle Schicksal, die Imitation menschlicher Gefühle bieten das Gerüst für eine fesselnde Umsetzung in Musik. Wenn diese Elemente fehlen, muss die Musik es zwangsläufig mit bildhaften Umsetzungen bewenden lassen. Dass dies Monteverdi nicht reichte, war das Kernproblem des Streites mit Artusi, der später im Übrigen zu einem der Bewunderer Monteverdis wurde.
 
Dr. Reinmar Emans
 
 
Braun, Werner: Der Stilwandel in der Musik um 1600. Darmstadt 1982.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertsonund Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 Leopold, Silke: Claudio Monteverdi und seine Zeit. Laaber 21993.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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